Während sich die Europäer auf einige Exzesse in der Silvester-Nacht vorbereiten, zeichnet sich in der neuen Europäischen Kommission eine heftige Debatte ab. Frankreich versucht, sein Lebensmittel-Bewertungssystem Nutri-Score den anderen EU-Mitgliedsländern aufzudrücken. Diese Initiative erntet durchaus keine spontane Zustimmung und riskiert deshalb, den Argwohn gegenüber der Brüsseler Bürokratie neu zu entfachen.
Sankt Silvester in Rot-Orange
Von « D orange » für das Überraschungs-Brot Tipiak und die tiefgekühlte « Bûche » Picard bis zu « E rot » für die Gänsestopfleber Labeyrie, zeigt Nutri-Score rot-orange gegenüber dem traditionellen französischen Silvester-Menu. Man wusste schon, dass die Feier Gelegenheiten für alle möglichen Exzesse bietet. Das von den französischen Gesundheitsbehörden eingeführte System der Lebensmittel-Bewertung konnte das nur bestätigen.
Um das zu überprüfen, brauchen Sie nur auf den Verpackungen das Logo in fünf Farben (von hellgrün bis rot) in Kombination mit den Buchstaben A bis E zu suchen. Diese kleine Etikett soll in Zukunft den Verbrauchern in Frankreich, Belgien und Spanien (auf freiwilliger Basis) zu den richtigen Entscheidungen verhelfen. Als man die Lebensmitel-Ampel im Jahre 2017 im Rahmen des Gesetzes über die Modernisierung des Gesundheitswesens einführte, stand das britische « Traffic light rating » von 2013 in abgewandelter Form Pate.
Während sich dieses auf Mengen-Angaben für Fett, Zucker und Salz in einem Produkt beschränkt, basiert Nutri-Score auf Berechnungen des Teams von Prof. Serge Hercberg. Man kalkuliert für je 100 Gramm eines Produkts den « Gehalt an wünschenswerten Elementen » (Fasern, Proteine, Obst und Gemüse) und an problematischen Gehalten (Kalorien, gesättigte Fettsäuren, Zucker und Salz). Jedes Produkt wird somit in Bezug auf seine angenommene Gesundheitswirkung benotet.
Aber was bringt uns dieses Benotungssystem, abgesehen von der Bestätigung unsrer Ahnungen hinsichtlich der Gesundheitswirkung des Neujahrsmenüs, wirklich? Führt es uns zu der von den Verbrauchern ersehnten Transparenz?
Mehr Transparenz ja, aber Achtung vor verführerischen Vereinfachungen
Es scheint einsichtig, dass der Verbraucher angesichts ständiger Innovationen und der unübersichtlichen Produktvielfalt der Nahrungsmittelindustrie an die Hand genommen werden muss. Es zeigt sich aber, dass die verschiedenen Benotungssysteme nicht gleichwertig sind. Es wäre bedauerlich, wenn man der Öffentlichkeit unter dem Vorwand der Vereinfachung schlechte Gewohnheiten anerzöge. Darauf läuft aber Nutri-Score hinaus: Den Verbrauchern die Wahl vereinfachen, um nicht zu sagen vorkauen. Ein Vertreter der Organisationen, die für die Einführung dieses Benotungssystems kämpfen, sagt es ganz deutlich: « Die schlechte Qualität einer zu großen Zahl industriell hergestellter Lebensmittel ist eine der Hauptursachen der hohen Rate von Fettleibigkeit, Herz- und Kreislaufkrankheiten und Diabetes » und « die Kompliziertheit der Nährwert-Tabellen auf den Verpackungen führt dazu, dass 82 % der Verbraucher diese nicht verstehen ».
Guy André Pelouze, ein bekannter Herz- und Gefäß-Chirurg, bemerkte schon 2014, lange bevor Nutri-Score in Kraft trat, in Le Monde: « Gute Absichten machen keine gute Politik ». Der Verbraucher würde danach wie ein « Pawlowscher Hund » behandelt. Angesichts bestimmter Farben würde der Verbraucher automatisch gewisse Produkte meiden, während er mit Produkten «guter» Farbe seinen Einkaufswagen füllt. « Zum Glück ist das Einkaufsverhalten viel komplexer. »
Überdies sollte man dem Algorithmus keine magische Kraft zusprechen und sich nicht vorstellen, dass es genügt, ihm zu folgen, um die optimale Gesundheit zu erlangen. Schließlich erinnert der Herz-Chirurg daran, dass diese « neue Schicht der Bürokratie » hinsichtlich « der Herausforderungen, die Fettleibigkeit, Bewegungsarmut, Rauchen und die damit verbundenen chronischen Krankheiten darstellen, unwirksam ist. »
Die Wissenschaftlichkeit, eine Frage des « Ernährungsprofils »
Auf seinem Blog erinnert Serge Hercberg daran, dass «Nutri-Score in seinem Aufbau wie in seiner Umsetzung auf soliden wissenschaftlichen Grundlagen fußt (mit über 30 wissenschaftlichen Publikationen in internationalen Zeitschriften mit Peer Review) und im Vergleich zu allen anderen Nahrungsmittel-Kennzeichnungen (mit weniger überzeugenden wissenschaftlichen Begründungen) seine Effizienz und Überlegenheit bewiesen hat.». Das ist ein gewichtiges Argument. Man fragt sich dann, warum es so viel Energie braucht, um die europäischen Behörden davon zu überzeugen.
So fußen sowohl Nutri-Score als auch das Traffic Light Labelling auf der Theorie der Ernährungsprofile, die die Nahrungsmittel in « gute » und « schlechte » einteilt. Doch wurde die Wissenschaftlichkeit dieser Einteilung schon 2008 von der Europäischen Nahrungsmittelbehörde EFSA in Frage gestellt. Die von der europäischen Behörde vorgebrachten Argumente sind leicht nachvollziehbar. Hier die beiden wichtigsten:
- Die Zusammensetzung und der Nährwert jedes Nahrungsmittels variieren in Anhängigkeit von ihrer Kombination mit anderen Lebensmitteln.
- Das Kochen und die Zubereitung beeinflussen die Zusammensetzung der Nahrungsmittel.
Die Zweifel der EFSA wurden durch mehrere Studien bekräftigt. Außerdem zeigt die große Zahl unterschiedlicher Systeme der Benotung von Lebensmitteln durch Staaten, Vereine und Unternehmen, dass es mit deren Wissenschaftlichkeit nicht weit her ist.
Die Mittelmeer-Diät vor dem Abschuss ?
Im April 2018 haben wir bereits in einer Kolumne mit dem Titel « Une nouvelle révolution diététique en Europe ? » von der Pressekonferenz berichtet, die Dr. Aseem Malhotra im Europäischen Parlament gab. Das Anliegen dieses Herz- und Gefäß-Chirurgen und Autors des Bestsellers Pioppi Diet bestand darin, die Europäische Kommission zu einer Sensibilisierungs-Kampagne zu veranlassen, um die Bürger zu bewegen, lieber ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern, als eine große Menge von Medikamenten zu schlucken, um zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten und Diabetes 2 zu bekämpfen.
Die von diesem Autor favorisierte Lösung fußt in der Hauptsache gerade auf der Mittelmeer-Diät und auf der Überzeugung, dass das oft verteufelte Fett nicht unbedingt schlecht ist für die Gesundheit. Wir erinnern daran, dass die Mittelmeer-Diät von der UNESCO im Jahre 2013 zum Weltkulturerbe erklärt wurde und dass Italien und Spanien als Länder anerkannt sind, deren Ernährungsweise in besonderem Maße die Gesundheit der Bewohner fördert.
Von daher könnte man erwarten, dass die Nahrungsmittel, die Teil dieser Diät sind, von Nutri-Score positiv hervorgehoben werden. Doch das ist erstaunlicherweise nicht der Fall. Als in Spanien darüber nachgedacht wurde, das französische System zu übernehmen, wurde man gewahr, dass ein Glas Coca Cola die Note « B hellgrün » erhielt, während eine Flasche lokales Olivenöl nur mit der Note « B orange » bedacht wurde – eine Klassifikation, die für ein lokales Produkt mit vielen nachweislich guten Eigenschaften umso nachteiliger erschien, als es auf das gleiche Niveau wie eine Flasche Ketchup gestellt wurde. Man kann sich die Reaktion der Spanier gut vorstellen. Angesichts dieser Ungereimtheit hat das Team von Serge Hercberg versucht zu relativieren und darauf hingewiesen, dass Olivenöl auch in anderen Benotungssystemen nicht besser abschneidet und dass nur Nutri-Score angegriffen wird.1
Wird die neue Kommission konzilianter sein?
Während die EU-Richtlinie über die Nahrungsmittelinformation für Verbraucher (1169/2011) das Prinzip einer klaren und transparenten Information über die Qualität der Nahrungsmittel festgelegt hat, ist das bei Benotungssystemen auf der Basis von Ernährungsprofilen nicht wirklich der Fall. Irreführende Vereinfachungen, Infragestellung der Wissenschaftlichkeit durch kompetente europäische Behörden, Ignoranz gegenüber symbolträchtigen Produkten, die eine hervorragende Rolle in traditionellen Ernährungsweisen spielen… Die Einwände gegen Nutri-Score häufen sich, was erklärt, dass dieses System im Jahre 2016 zweimal vom Europäischen Parlament abgelehnt wurde. Das Fach-Magazin Food Navigator titelte deshalb: « Das Europäische Parlament hat die Ernährungsprofile verworfen». Dieses Magazin berichtete, dass die Verbraucherorganisationen, die Aktivisten der öffentlichen Gesundheit und gewisse Industrielle durch dieses klare Votum von 402 gegen 285 Stimmen irritiert waren. Die zwei Hauptargumente für diese Ablehnung waren « fortdauernde Probleme der Implementierung » und eine mögliche Marktverzerrung. Werden die Verfechter dieser Linie mehr Chancen haben mit der neuen Kommission ?
Die Zukunft gehört einem individualisierten System und nicht dem « one size fits all »
Ein System wie Nutri Score ist kein rein wissenschaftliches. Es ist auch politisch. Es gibt den Verdacht, dass ein auf alle Länder der EU ausgedehntes Benotungssystem als verdeckte Form des Protektionismus (2) interpretiert werden könnte. Zumal das fragliche System auch die Kritik zahlreicher europäischer Experten auf sich zieht. Nichtsdestotrotz bleibt die Nahrungsmittelindustrie verpflichtet, die Verbraucher besser zu informieren.
Dann stellt sich die Frage nach dem Benotungssystem. Neuerdings wurden beachtliche Fortschritte erzielt, die es jedem Individuum ermöglichen, die für es günstigste Wahl der Ernährungsweise zu treffen. So hat das israelische Weizmann Institute of Science ermittelt, dass jedes Individuum auf jeden Typ von Nahrungsmitteln anders reagiert.
Diese Herangehensweise widerspricht, wie es scheint, weitgehend der Definition von Ernährungsprofilen. Wenn man maßgeschneiderte Ernährungs-Empfehlungen anstrebt, bleibt es unverständlich, warum man die Verbraucher mithilfe von Ernährungsprofilen nach dem Muster « One size fits all » lenken will… Möchte man das französische Gargantua-Neujahrmenü allen EU-Ländern verordnen ? Sicher nicht. Das käme niemandem in den Sinn. Jedes Land hängt an seinen eigenen Traditionen und Exzessen… wie auch an der Art des Katerfrühstücks, um am Folgetag wieder auf die Beine zu kommen.
Da die Brüsseler Bürokratie wegen ihrer uniformierenden Gesetzgebung mehr und mehr im Kreuzfeuer der Kritik aus verschiedenen Mitgliedsstaaten steht (siehe hierzu unsere Kolumne über den Brexit), täte sie gut daran nachzudenken, bevor sie versucht, allen Mitgliedsländern ein einheitliches Benotungssystem zu verfordnen.
[1] « Quel que soit le système, l’huile d’olive est moins bien classée compte-tenu de son contenu en calories, graisses totales et graisses saturées. Mais curieusement si cette critiques revient fortement pour le Nutri-Score, personne ne s’est offusquée de ce problème de classement pour le Traffic Lights Multiples britannique et cela n’a d’ailleurs pas posé de problèmes pour les consommateurs des chaines de distribution qui utilisent déjà depuis de longues années ce type de logo (en Espagne, au Portugal ou au Royaume Uni) et qui positionnent également plus mal l’huile d’olive que le Coca-Cola zéro. » https://nutriscore.blog/2019/04/20/incomprehensions-et-fake-news-concernant-nutri-score-comment-essayer-de-destabiliser-un-outil-de-sante-publique-qui-derange/
(2) So haben sich die Italiener schon 2016 bei der EU-Kommission darüber beschwert, dass die Briten ihrem Olivienöl eine schlechte Note gegben hatten und dass ihre Olivenöl-Exporte in der Folgezeit sanken. https://www.foodnavigator.com/Article/2016/03/16/Italy-raises-red-flag-once-more-over-UK-s-traffic-light-label
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