Brexit oder kein Brexit, das ist nicht die Frage: Gute Wissenschaft verspottet politische Protokolle und zeichnet sich weiterhin universell aus. Letzte Woche trafen sich im Europäischen Parlament in Brüssel zu einem provokanten Vortrag mit dem Titel „Big Food and Big Pharma: Killing for Profit“ [1] einige große Namen der britischen Wissenschaft und Medizin und ein Holländer. Darunter Dr. Aseem Malhotra, Kardiologieberater und Autor des Bestsellers Pioppi Diet, Carl Heneghan, Professor für experimentelle Medizin in Oxford, Hanno Pijl, Endokrinologe an der Universität Leiden, Richard Thompson, ehemaliger Leibarzt der Königin von 1984 – 2005, Sarah Ann Macklin und Deborah Cohen, Journalisten und medizinische Berater. In ihrer Pressemitteilung erwähnen die Autoren keine halben Sachen. Sie wollen „die dunkle Welt der Lobbyarbeit und wie große Lebensmittel- und Pharmaunternehmen die Ernährungs- und Medizinrichtlinien beeinflussen, die Millionen von Menschenleben gefährden, auffliegen lassen. Die vereinten Kräfte werden die heimliche Zusammenarbeit – die auf Profitgründen basiert – zwischen Politikern, angesehenen medizinischen Einrichtungen, Wohltätigkeitsorganisationen und medizinischen Fachzeitschriften aufdecken, was zu einer Epidemie von Fehlinformationen mit verheerenden Folgen für die Gesundheit weltweit führen wird.“[2] Dies führt dazu, den Hinweisgeber hellhörig zu machen. Gibt es überhaupt etwas, was wir noch nicht der Lebensmittel- und Pharmaindustrie angelastet haben? Worum könnte es sich handeln? Versteckte Pestizide? Endokrine Disruptoren? Konservierungsstoffe? Nein, nein, nein ! Es geht ganz einfach um Ernährung und Lebensstil, die beide für unsere Gesundheit von entscheidender Bedeutung sind.
Laut Professor Malhotra und seinen Co-Autoren sind die öffentlichen Gesundheitsbehörden in Europa seit Jahren auf dem Holzweg. Wir sehen tatsächlich eine Zunahme chronischer Krankheiten, von denen die meisten Krankheiten sind, die durch eine Änderung des Lebensstils vermieden werden könnten. Diese Krankheiten führen dazu, dass sich die Menschen einer aufwändigen medikamentösen Behandlung und zahlreichen chirurgischen Eingriffen unterziehen. All dies führt leider nur zu einer Ergebnisflaute und kostet die Volkswirtschaften ein Vermögen. Um dies zu beweisen, zitieren die Autoren die Studien, die im Vereinigten Königreich an Diabetikern durchgeführt wurden: Nach ihrer Ansicht „Wenn alle britischen Diabetiker (Typ 1 und Typ 2) den Richtlinien folgen würden, die die unabhängigen wissenschaftlichen Erkenntnisse widerspiegeln, und die derzeitigen Richtlinien der Regierung für fettarme Ernährung ignorieren würden, würde dies die Abhängigkeit von Diabetes-Medikamenten und Insulin um über 50% verringern und den Krankenkassen (NHS) jährlich Hunderte von Millionen Pfund einsparen„.[3]
Die Gruppe beabsichtigt daher, die Europäische Kommission aufzufordern, eine Sensibilisierungskampagne zu starten, damit die Bürger in Erwägung ziehen, ihre Essgewohnheiten zu ändern, anstatt gezwungen zu sein, Medikamente übermäßig zu konsumieren. Sie fordern auch eine breit angelegte „Chilcott-ähnliche Untersuchung“[4] und behaupten, dass wir uns jetzt an dem selben Punkt befinden wie damals beim Tabakskandal in den 60er Jahren.
Die Leser werden sich vielleicht fragen, woraus diese revolutionäre, wissenschaftlich fundierte Ernährung besteht. Was könnte die Autoren dazu ermächtigen, zu erklären, dass nicht nur die britische Regierung, sondern Regierungen in ganz Europa in ihren derzeitigen Ernährungsempfehlungen fehlgeleitet sind, was bedeutet, dass ein ungesundes System nicht nur eingeführt, sondern von allen relevanten Interessenvertretern unterstützt wird, was dazu führt, dass die europäischen Bürger krank werden und gezwungen sind, kostspielige und ineffiziente Behandlungsmethoden zu wählen?
Wenn Malhotras Team so eindringlich seine Meinung äußern kann, dann wohl deshalb, weil es ihre Empfehlungen auf einen vollständigen Paradigmenwechsel gründet: Fett zu verzehren ist gut, aber andererseits sollten wir auch versuchen, Zucker so weit wie möglich in unserer Ernährung zu vermeiden. Das ist die Tatsache, der wir uns seit Jahren nicht mehr stellen wollen. Das US-Magazin Time – das immer auf der Suche nach den neuesten Trends ist – hatte bereits im Juni 2014 eine Titelgeschichte mit dem Titel „Eat Butter“ veröffentlicht. Der Artikel von Brian Walsh erklärte, warum Wissenschaftler seit Jahren fälschlicherweise davon ausgehen, dass Fett der Feind sei. Diese „Revolution“ hat allmählich ihren Weg nach Europa gefunden. Der Philosoph und amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hätte an dieser Geschichte Gefallen gefunden. Er hätte gesehen, dass die seit Jahren herrschende „normale Wissenschaft“ auf dem Paradigma basiert, dass „es gut ist, Kohlenhydrate und Proteine zu essen, aber man unbedingt alle Lipide aus der Nahrung verbannen muss – die Hauptrisikofaktoren bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen“. Kuhn hätte somit bewiesen, dass alle Fakten, die diesem grundlegenden Paradigma der „normalen Wissenschaft“ widersprechen, seit Jahren übersehen wurden, bis zur Entstehung einer Krise, die dazu geführt hat, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Weiters sind auch neue Interpretationen aufgetaucht, um ihnen im Kontext einer konkurrierenden wissenschaftlichen Theorie, dem Prinzip jeder „wissenschaftlichen Revolution“, einen Sinn zu geben. Um jedoch zu unserem Hauptthema zurückzukehren, sehen wir deutlich ein neues Paradigma in Form einer neuen wissenschaftlichen Empfehlung, die das genaue Gegenteil von der vorherigen ist: Es ist gut Fett zu verzehren, Kohlenhydrate sollte man hingegen vermeiden.
In Europa wurde dieses Paradigma noch nicht vollständig akzeptiert, und nicht jeder hat davon gehört. Man kann daher davon ausgehen, dass die Revolution noch lange nicht abgeschlossen ist, auch wenn einige Länder Vorreiter sind. So hat sich Schweden im Jahr 2013 als erstes westliches Land vom Paradigma der „lipidarmen“ Ernährung distanziert und eine „kohlenhydratarme und fettreiche“ Ernährung gefördert.
In Frankreich gibt es einige Meinungen, die die alte Sichtweise kritisieren und auf ihre Absurditäten bzw. Beweise zugunsten der neuen Ernährung hinweisen. Hier bei European Scientist haben wir vor einiger Zeit eine Stellungnahme von Guy André und Alexandre Pelouze zum Thema „How the obsession with „fat free“ permitted an epidemic of obesity“ veröffentlicht. In diesem Text gehen die Autoren auf das Warum und Wofür dieser etwas extremen Situation ein, in der die Lebensmittelindustrie nach und nach Fett aus allen Lebensmitteln entfernt und es durch Zucker ersetzt hat, meist in Form von versteckten Zuckern. Wir können diesen sehr relevanten Artikel nicht hoch genug empfehlen. Es gibt Erklärungen wie „Der zweite wichtige Punkt, den es zu beachten gilt, ist, dass das Fett, das Sie essen (exogenes Fett genannt), nicht genau das gleiche Fett ist, das Sie in Ihren Arterien finden“ Oder “ Wir möchten nun erklären, warum Zucker und nicht Fett der Übeltäter ist. Der Hauptgrund liegt darin, dass Ihr Körperfett, auch bekannt als endogenes Fett, nicht aus exogenem Fett, sondern aus exogenem Zucker hergestellt wird. Mit anderen Worten, der Zucker, den Sie zu sich nehmen, macht Sie fett.“
Auf dem Gebiet der Diätetik ist eine Revolution im Gange. Dass wir auf Kuhn Bezug genommen haben, ist kein Zufall. Kuhn wurde oft für den relativistischen Aspekt seiner Theorien kritisiert, da er wissenschaftliche Wahrheiten von vielen soziologischen Faktoren abhängig macht. Dies gilt besonders für einen Bereich wie die Ernährungswissenschaft, in dem kulturelle, soziologische und persönliche Faktoren eine wesentliche Rolle spielen. Es wird wohl noch Jahre dauern, bis das Paradigma der kohlenhydratarmen, fettreichen Ernährung weitgehend akzeptiert wird. Ist es wirklich gut, dass ein neuer Glaube ganzheitlich und ohne Vorbehalt akzeptiert wird, auf die Gefahr hin, dass er missverstanden oder überinterpretiert wird? Wie Dr. Pelouze oft betont, haben die Ursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen viele Faktoren. Ernährung allein reicht nicht aus. Sie müssen sich sportlich betätigen, das Rauchen vermeiden, einen sitzenden Lebensstil vermeiden…. Und wird es wirksam sein, die Lebensmittelindustrie einseitig anzugreifen und an die politischen Behörden zu appellieren, um Lösungen zu finden? Wir haben zwar Verständnis für die Notwendigkeit, eine öffentlichkeitswirksame Erklärung abzugeben, aber wir sollten es vermeiden, in die Falle der Bevormundung zu tappen, wie auch Bill Wirtz in einem Text, den wir letzte Woche in The Foodwatch Report, einer deutschen NRO, veröffentlicht haben, feststellte. Natürlich ist es notwendig, weiterhin Druck auf die Hersteller auszuűben um mehr Alternativen anzubieten, und auf die Politiker um einschlägige Richtlinien vorzugeben. Aber die Revolution wird hauptsächlich darin bestehen, das Bewusstsein der Verbraucher zu schärfen und sie zu befähigen, die richtigen Entscheidungen mit voller Kenntnis der Fakten zu treffen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ihnen eine Wahl an Lebensstilen anzubieten, wie es Dr. Malhotra in seinem Buch die Pioppi Diät tut; oder Rezepte und Tipps zu präsentieren wie jene, die bei EatFat2BeFit gefunden werden…. Wenn Einzelpersonen alle Faktoren berűcksichtigen, kann Schritt für Schritt und nach und nach vielleicht eine Revolution stattfinden.
[1] “Big food and big pharma, killing for profit?” DONNERSTAG 12. APRIL 2018 15:00 – 17:00 ASP A1E-2, Europäisches Parlament, Brüssel –
[2] „die dunkle Welt der Lobbyarbeit und wie große Lebensmittel- und Pharmaunternehmen die Ernährungs- und Medizinrichtlinien beeinflussen, die Millionen von Menschenleben gefährden, auffliegen lassen. Die vereinten Kräfte werden die heimliche Zusammenarbeit – die auf Profitgründen basiert – zwischen Politikern, angesehenen medizinischen Einrichtungen, Wohltätigkeitsorganisationen und medizinischen Fachzeitschriften aufdecken, was zu einer Epidemie von Fehlinformationen mit verheerenden Folgen für die Gesundheit weltweit führen wird.“
[3] “Wenn alle britischen Diabetiker (Typ 1 und Typ 2) den Richtlinien folgen würden, die die unabhängigen wissenschaftlichen Erkenntnisse widerspiegeln, und die derzeitigen Richtlinien der Regierung für fettarme Ernährung ignorieren würden, würde dies die Abhängigkeit von Diabetes-Medikamenten und Insulin um über 50% verringern und den Krankenkassen (NHS) jährlich Hunderte von Millionen Pfund einsparen. »
[4] Zur Erinnerung: Das war die britische Untersuchungskommission über die Rolle des Vereinigten Königreichs bei der Auslösung des Krieges im Irak.
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